Das autonome Nervensystem verstehen
- Corinne Küng
- 28. Apr.
- 8 Min. Lesezeit
Ein Schlüssel zur Selbstregulation und damit der Gestaltung von traumasensiblen Räumen!
Das autonome Nervensystem (ANS) steuert unbewusst eine Vielzahl lebenswichtiger Funktionen im Körper, wie die Atmung, den Herzschlag und die Verdauung. Es reguliert auch unser instinktives Verhalten und spielt eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung unserer Überlebensfähigkeit.
Früher wurde das autonome Nervensystem hauptsächlich in zwei Bereiche unterteilt: den Sympathikus und den Parasympathikus. 1994 stellte der US-amerikanische Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen Porges die Polyvagal-Theorie vor. Diese Theorie erweitert das Verständnis des Parasympathikus und beschreibt zwei Äste: den ventralen und den dorsalen Vagus. Diese Begriffe beziehen sich auf den Vagusnerv, der der zehnte Hirnnerv ist und eine zentrale Rolle bei der Kommunikation zwischen Gehirn und Körper spielt. Vagusnerv und Parasympathikus werden deshalb oft synonym verwendet.
Durch diese Entdeckung wird die Vielfalt parasympathischer Zustände deutlich. „Ruhe“ ist nicht gleich „Ruhe“, sondern hängt davon ab, welcher Teil des Parasympathikus gerade aktiviert ist. Ist es eine angenehme, wohlige, sehr präsente Ruhe, die sich sicher anfühlt, so ist der ventrale Ast aktiviert. Fühlt es sich hingegen eher abgeschnitten an, hilflos oder gar ohnmächtig und damit überhaupt nicht sicher, so ist der dorsale Ast des Vagus aktiviert. Das bedeutet, dass Sicherheit tatsächlich ein Zustand des Nervensystems ist.
Dieses differenzierte Verständnis ist deswegen auch von immenser Bedeutung, um möglichst sichere Räume zu gestalten!
Instinkte und das Nervensystem
Der Mensch ist die einzige Spezies, die sowohl instinktives Verhalten als auch hohe kognitive Fähigkeiten besitzt. In der heutigen Gesellschaft wird das Instinktive oft abgewertet und der Körper als „Feind“ des rationalen Denkens betrachtet. Dabei ist der Körper ein wesentlicher Teil des Selbst und liefert wertvolle Hinweise auf den aktuellen Zustand des Nervensystems.
Biologisch gesehen ist das Nervensystem direkt mit dem Stammhirn verbunden, dem ältesten Teil des Gehirns. Der Neokortex, der für Bewusstsein und komplexes Denken verantwortlich ist, kam erst viel später hinzu. Instinktive Reaktionen erfolgen daher schneller als bewusste Gedanken. Wie die Neurowissenschaftlerin Deb Dana treffend sagte: „Die Geschichte folgt dem Nervensystemzustand“ („Story follows state“).
Aber wie zeigen sich denn nun diese unterschiedlichen Nervensystemzustände speziell auch im Alltag?
Verschiedene Nervensystemzustände
Merkmale der Sicherheit – Ich bin
Eine hohe Aktivierung des ventralen Parasympathikus ist mit einem Gefühl von Sicherheit im Nervensystem verbunden. In diesem Zustand fühlt sich das „Hier und Jetzt“ sicher an, es besteht eine Balance zwischen Denken und Fühlen, und soziale Interaktionen sind feinfühlig möglich. Dies zeigt sich beispielsweise in weichen Gesichtszügen und einer wohligen Zugewandtheit. Kreativität und Spiel sind ebenfalls ein Ausdruck dieses Zustands. Hier ist eine echte Präsenz möglich und damit verbunden auch die Möglichkeit, anderen Menschen Co-Regulation anbieten zu können.
Im Alltag kann sich dies dadurch zeigen, dass du dich wohlig in dir fühlst. Du kannst entspannen und spürst viel Vertrauen in dir und auch in der Welt. Du weißt, dass du jegliche Herausforderungen meistern kannst und nicht alleine bist. Du siehst verschiedenste Wege und Wahlmöglichkeiten und kannst diese nutzen. Du fühlst dich mit dir und der Welt verbunden. Du bist neugierig und interessiert, spürst deine Grenzen und respektierst diese. Du probierst aus und erforschst, was sich für dich stimmig anfühlt.
Merkmale der Mobilisation – Ich kann
Hier kommt mehr sympathische Aktivierung in dein Nervensystem. Dies zeigt sich beispielsweise mit einer erhöhten Schreckhaftigkeit, Unruhe oder auch einem sich getrieben fühlen. Schlafstörungen können ebenso auf viel Mobilisation in dir hinweisen. Dein Muskeltonus ist erhöht, dies zeigt sich in Verspannungen. Es kommt auch zu emotionalen Überflutungszuständen.
Körperlich zeigt sich dies beispielsweise auch in der Erhöhung deines Herzschlags, schwitzigen Körperstellen, deine Atmung wird flacher, dein Blick verengt sich und ist oft sehr fokussiert oder schnell suchend. Wenn sehr viel Aktivierung in deinem Nervensystem ist, kannst du auch den Drang verspüren auf die Toilette gehen zu müssen (Harn- und/oder Stuhldrang), dein Darm möchte sich erleichtern, damit du schneller handeln kannst.
Je mehr Mobilisation in deinem Nervensystem ist, desto deutlicher zeigen sich die Überlebensreaktionen. Hier taucht als erstes die Bindungssuche auf: Ist jemand da, der helfen kann beim Regulieren? Wenn nicht, greifen die Überlebensreaktionen von „fight“ und „flight“. Dabei schätzt das Nervensystem innerhalb von Sekundenbruchteilen autonom ab, mit welcher Reaktion dein Überleben sicherer ist. Dies kann sich in gewissen Situationen stark physisch zeigen. Im Alltag zeigen sich diese Überlebensreaktionen aber viel subtiler. Beispielsweise:
Bindungssuche: jedes kleinste Erlebnis mit jemandem teilen müssen, weil es für einen selbst zu viel ist
Fight: In Konflikten sehr laut werden, ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken, entweder… oder…, Kontrolle haben wollen
Flight: Rückzug oder Vermeidung von Situationen
Wichtig ist hierbei: Daran ist nichts schlecht oder verwerflich! Die Frage ist: Dienen diese – teilweise in sehr frühen Jahren – antrainierten Überlebensreaktionen deinem Alltag? Wo reagierst du auf etwas mit einem Verhalten, das dir früher nützlich war und heute manchmal im Weg steht?
Wenn du merkst, dass viel Mobilisation in deinem Nervensystem ist, ist es grundsätzlich dienlich, das Tempo zu verlangsamen. Im Großen und Ganzen und im kleinen Moment. Im Alltag kann das so aussehen:
Verlangsamen! Statt mit dem Velo nach Hause fahren, laufen und Fahrrad stossen oder einen niedrigeren Gang wählen, Pausen machen, Ausatmung verlangsamen, sich erden (Schwerkraft spüren),…
Tendenz: Tempo rausnehmen (nicht von 100 auf 0, sonst landest du in der Immobilisation)
Merkmale der Immobilisation – Ich kann nicht
Wenn all die oben aufgeführten Überlebensreaktionen nicht greifen, dann kickt der dorsale Ast des Parasympathikus ein. Wenn also die Mobilisation nichts brachte, reagiert dein Nervensystem mit Immobilisation. Das kann sich in einer körperlichen und emotionalen Taubheit zeigen. Der Muskeltonus ist niedrig – der Körper nicht mehr richtig spür- und wahrnehmbar. Das kann sich auch in dissoziativen Symptomen äußern. Bis hin zu depressiven Symptomen oder chronischer Müdigkeit. Die Welt fühlt sich dann nach einem tiefschwarzen Ort an. Hilflosigkeit und Ohnmacht machen sich breit. Vielleicht auch Hoffnungslosigkeit und ein Gefühl von „es wird sich nie etwas ändern“.
Auch hier kommen verschiedene Überlebensreaktionen zum Zug:
Fawn-Response: klassische Unterwerfung: Ja sagen (und Nein meinen), über die eigenen Grenzen hinausgehen um es jemand anderem Recht zu machen
Freeze: Prokrastination, Erstarrtsein – beispielsweise nicht reagieren können in Situationen, wo man im Nachhinein denkt: „Warum bin ich nicht einfach gegangen oder habe ich X gesagt?“
Shut-Down: komplette Erschöpfung und Leere, nichts fühlt sich machbar und erreichbar an, sich abgeschnitten fühlen von sich selbst und der Welt
Nichts davon ist falsch! Es sind alles natürliche Reaktionen deines Nervensystems, die ihre guten Gründe haben. Wenn du merkst, dass du in einem immobilen Zustand feststeckst, kann es helfen langsam und in kleinsten Schritten mehr Bewegung in dein System zu bringen.
Hierarchie deiner Nervensystemzustände
Die Aktivierungskurve ist eine Möglichkeit sich selbst zu verorten und zeigt zugleich auf, dass es eine Hierarchie im Nervensystem gibt:

Quellen: Stephen Porges, Urs Honauer, Verena König | Darstellung: Corinne Küng
Diese Hierarchie hat sich natürlich in unserer Evolution gebaut. Sie gibt wertvolle Hinweise, weshalb gewisse Interventionen funktionieren oder eben nicht. Es ist nicht möglich, von einem dorsal aktivierten Zustand direkt in einen ventral aktivierten Zustand zu wechseln. Der Weg führt immer über die Mobilisation! Wie oben beschrieben: Möglichst in kleinen, machbaren Schritten. Bis wieder mehr Energie da ist, die dann wiederum umgesetzt werden kann, um damit wieder in einem ventral aktivierten Zustand zu landen.
Regulationsfähigkeit des Nervensystems – ein dynamischer Prozess
Ein reguliertes Nervensystem kann sich zwischen den verschiedenen Zuständen flexibel hin und her bewegen. Das passiert natürlicherweise mehrmals am Tag. Denn das Ziel ist nicht, ständig in einem Zustand der Entspannung zu bleiben, sondern nach einer Aktivierung oder einem stressigen Ereignis wieder in den Zustand der Entspannung und somit Sicherheit zurückzufinden. Also in einen ventral aktivierten Nervensystem-Zustand.
Ein dysreguliertes Nervensystem bleibt häufig entweder im sympathischen Zustand oder in einem Zustand mit starker dorsaler Aktivierung des Parasympathikus hängen. Es kann auch zwischen diesen Zuständen schwanken. Dies ist eine natürliche Reaktion des Körpers auf Stress und bedrohliche Ereignisse. Diese Reaktionen sind oft tief in uns verankert und werden nicht bewusst gewählt.
Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass dysregulierte Zustände nicht „falsch“ sind und schon gar kein Zeichen von Schwäche. Vielmehr spiegeln sie oft die Spuren wider, die das Leben im Nervensystem hinterlassen hat. Besonders gesellschaftliche Normen – geprägt von Patriarchat und Kapitalismus – wie etwa das Streben nach „Leistung“, können diese Reaktionen verstärken. Dein Wert ist aber unabhängig von deiner Leistung: Du bist gut genug. Immer!
Die Flexibilität dieser Regulationsfähigkeit hängt von frühen Bindungserfahrungen und stressigen bis hin zu (potenziell) traumatischen Ereignissen im Leben ab. Daher kann die Fähigkeit zur Selbstregulation individuell variieren.
Drei Arten der Regulation
Als Baby und Kleinkind ist das Nervensystem noch auf Co-Regulation angewiesen, also auf die Unterstützung durch Bezugspersonen. Eine gesunde, unterstützende, sichere Bindung fördert die Entwicklung einer flexiblen und resilienten Selbstregulation. Fehlen diese Erfahrungen, kann es zu einer unsicheren Bindung kommen, die die Entwicklung der Selbstregulationsfähigkeiten beeinträchtigt. Allerdings ist es hier wichtig zu betonen, dass diese Fähigkeiten auch im Erwachsenenalter noch entwickelt werden können, da das Nervensystem lernfähig bleibt.
Es wird zwischen drei Arten der Regulationsfähigkeit unterschieden:
Co-Regulation: Unterstützung eines anderen Menschen beim Regulationsprozess durch die eigene Präsenz.
Autoregulation: Eine funktionale, oft strategische Regulationsebene, die aber auch von Abhängigkeit geprägt sein kann.
Selbstregulation: Eine innerliche Regulation, die darauf abzielt, ein dynamisches Gleichgewicht (Homöostase) im Körper wieder herzustellen und zu erhalten. Sie fördert die Unabhängigkeit.
Gespeicherte Überlebensenergie lösen
Was, wenn du merkst, dass du in einem Zustand der Mobilisation und/oder Immobilisation feststeckst? Es ist möglich, die damit verbundene, gespeicherte „Überlebensenergie“ aus dem Nervensystem zu lösen und die Kapazität zur Selbstregulation wieder zu erweitern. Dies erfordert die Arbeit MIT dem Körper UND dem Nervensystem. Denn auf rein kognitiver Ebene lässt sich zwar vieles erklären und verstehen – das bedeutet aber nicht, dass dies auch wirklich zu den gewünschten Veränderungen führt. Die Arbeit alleine mit dem Körper bedeutet hingegen nicht, dass sie auch die Funktionsweise des Nervensystems mit einbezieht.
Wichtig ist hierbei, sorgfältig vorzugehen und dir dafür Unterstützung (Co-Regulation) zu holen. Also ein Gegenüber, dass selbst reguliert ist und dir dadurch Sicherheit anbieten kann.
Eine dienliche Metapher hierfür ist das Sinnbild einer Staumauer. Wenn all das gespeicherte Wasser auf einmal gelöst wird, wird damit das Tal geflutet und damit grosser Schaden angerichtet. Wird hingegen die Menge Wasser unterschiedlich dosiert, je nach Kapazität der Umwelt, so kann dies dem Fluss so zugeführt werden, dass es frei fließen und sich innerhalb des Flussbettes frei bewegen und entfalten kann. Dasselbe passiert in dir. Eine möglichst schnelle Veränderung sollte also weder Ziel noch der Weg sein, sondern vielmehr ein stimmiges Maß, das sich in deinem Alltag integrieren lässt. Je nach Biografie dauert dies mehrere Monate bis mehrere Jahre. Dies kann Druck rausnehmen – du darfst deinen Weg in deinem eigenen Tempo gehen. Vorsicht deshalb bei allen Angeboten, die eine schnelle Lösung versprechen – es kann zu viel sein und damit eher das Gegenteil bewirken!
Weshalb ist dieses Wissen für das Gestalten von Begegnungs- und Erfahrungsräumen wichtig ist
Es ist der Nervensystemzustand der bestimmt, wie du über dich selbst und die Welt denkst. Wie du dich fühlst und wie du handelst. Dies als Begleiter:in und/oder Raumhalter:in zu erkennen ist enorm wichtig. Denn je nach Nervensystem Zustand braucht es demnach andere Interventionen und ein Anpassen der Methoden.Weiter ist es auch eine Erklärung weshalb Methoden, die nur über Gespräche und/oder die Kognition abzielen, oftmals nicht funktionieren. Ein sehr simples Beispiel dafür sind positive Affirmationen. Wenn du eine hohe ventrale Aktivierung in deinem Nervensystem hast, dich also sicher fühlst, dann können diese ganz anders in dir landen. Dann fühlt sich der Satz «Ich bin sicher» auch im Körper stimmig an. Wenn du aber unter Hochstress bist und dir einzureden versuchst, dass alles easy ist, dann kann dies unter Umständen zu noch mehr Stress in deinem Nervensystem führen. Möglicherweise bleibst du in einem Loop hängen. Und wenn eine hohe dorsale Aktivierung im Nervensystem ist, dann kommt wahrscheinlich eher eine Reaktion von «WTF? Blablabla».
Die wichtigste Voraussetzung, um möglichst sichere Räume anzubieten, ist ein reguliertes Nervensystem, also deine volle Präsenz im hier & jetzt. Damit du als Resonanzkörper für die anderen Anwesenden dienen kannst.
So kann ich dich aktuell unterstützen
Meine Mission mit Traumasensible Räume ist mehr Sicherheit in diese Welt zu bringen. Von innen nach aussen! Mit diesen Angeboten kann ich dich aktuell darin unterstützen:
✨ 1:1-Begleitung (in Luzern oder online via Zoom) – um die Flexibilität deines Nervensystems zu erweitern und in dir selbst mehr Sicherheit zu kreieren.
✨ RegulationsRaum - Selbstregulation mitten in deinem Alltag - lebendig, frei und natürlich – stärken. Wir praktizieren einen ganzen Monat gemeinsam.
✨ Nervensystem-Workshop in Luzern – erfahre in einer kleinen Gruppe auf spielerische und kreative Art mehr über deine Nervensystem-Zustände und wie sie sich in deinem Alltag zeigen.
✨ ResonanzRaum – wir nehmen gemeinsam dein Angebot unter die traumasensible Lupe nehmen und schauen, wie du dein Setting sicherer gestalten kannst. Schreibe mir dafür mit deinem Anliegen eine E-Mail: info@corinnekueng.ch
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